Karin Karinna Bühler

  Bildende Künstlerin und Informationswissenschaftlerin. Kritische Neugierde prägt meine Arbeit. Ich analysiere unsere Gesellschaft und hinterfrage die Art und Weise, wie wir mit Sprache, mit Geschichte und Geschlecht umgehen.  


2011
Interview

Realität reinterpretieren

Modifiziertes Interview, von Random Metapher und Karin Karinna Bühler, 2011
nach dem Interview von Raimundas Malašauskas mit Gintaras Didžiapetris in mousse, issue #20, www.moussemagazine.it




Karin Karinna Bühler, geboren 1974, ist die schweizerische Enkelin der amerikanischen Künstler der 60er Jahre (Dematerialization of the art object, Lucy R. Lippard), seit sie einen persönlichen Weg verfolgt, sich Dinge vorzustellen, um sie zu verstehen.

Freilich können wir heute ihrer Äusserung, dass Bilder im Kopf entstehen, zustimmen. Die Antwort auf die Überschwemmung von Materialität und zelebriertem Materialfetischismus ist ein Auflösen und Verdauen, ein Nachspüren von Ordnung oder Theorie in unbedeutenden Winkeln und Verstecken der Geschichte, wie den Erinnerungen eines Mannes, der vor mehr als hundertfünfzig Jahren auf die Welt kam. Die Erinnerungen beruhen auf Schilderungen seines Lebens kurz vor seinem Tod. In diesem Gespräch erforscht Random Metapher Bühlers Besessenheit nach absenten Dingen, beginnend mit «Meine Welt ist nicht deine Welt», einem Stadtspaziergang, bei dem man den Beschreibungen eines Blinden folgt.

Random Metapher: Ich habe gehört, dass du we­nige zeitgenössische Publikationen, Zeitschriften oder Magazine liest. Was liest du denn?

Karin Karinna Bühler: Ich meine, dass Bücher immer imaginäre Reisen sind. Xavier de Maistre erklärt sein Zimmer zur ganzen Welt und macht sich auf die Reise. Was er dabei entdeckt und erforscht sind nicht nur die Gegenstände des Zimmers, die Möbel, die Bilder, die seine Reiseroute markieren, er entdeckt deren Geschichte und damit seine Vergangenheit.

Aha, du liest de Maistre. Was planst du heute zu tun?

Ich werde morgen eine Reise antreten und hoffe einen ruhigen Abend zu verbringen.

Was hast du hier notiert?

Diesen Satz notierte ich mir im Halbschlaf, jenem Zustand, in dem sich Informationen frei zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein bewegen.

Du hast gesagt, dass Dinge Erinnerungen ähneln.

Und Erinnerungen sehen wie Dinge aus. Eine Erinnerung, die ein Ding abformt?

Sprichst du oft in Gedanken?

Nicht direkt. Manchmal möchte ich meine Gedanken, bevor sie wie Träume wieder verschwinden, aufschreiben (Somnambule Zeichen). Ein Stück Papier als ein Gedanke. Dann kann dieses Papier benutzt werden, um Gedanken daraus oder über es entstehen zu lassen.

Ist ein mentales Bild die Abwesenheit von Etwas? Zum Beispiel, wenn du mit einer blinden Person durch die Stadt spazierst – wird seine akustische und taktile Wahrnehmung zum mentalen Bild?

Diese Art von Sehen fasziniert mich, weil das Bildmotiv zwar existiert, es aber im Kopf bisweilen sehr verschiedene Ausformungen annehmen kann. Genau wie sich bei einem bestimmten Geruch Erinnerungen einstellen.

Du sprichst oft über das, was in Jemandes Kopf entsteht. Dieses Phänomen oder Bild, das im Kopf von jemandem Form annimmt, ist die Folge von etwas von dir Vorgeschlagenem – ist es diese Art von mentalem Bild, von Imagination?

Ja, mich interessieren Assoziationen und Erinnerungen, die nicht fassbar, aber bildhaft sind und ad hoc generiert werden können. Es sind scheinbar flüchtige Begebenheiten, die das Versprechen eines Bildes offerieren und auch reale Erfahrungen kreieren können. Ich bin fasziniert vom Gedanken an Wörter, die etwas ganz bestimmtes meinen, aber dennoch viele neue Wahrnehmungsmodelle repräsentieren können.

Was kannst du diesbezüglich über deine Audio-Arbeit für die Kunst Halle in St.Gallen erzählen?

Anlässlich der von Giovanni Carmine und Thomas Boutoux kuratierten Gruppenausstellung «A Town(Not A City), entwickelte ich eine Arbeit im Stadtraum. Ausstellungsidee war, die Provinzialität von einer kleinen Stadt wie St.Gallen zu reflektieren. Ich realisierte, dass eine Einschätzung der gegebenen Situation nicht nur auf Grösse und Einwohnerzahl abgestützt werden kann, sondern auch eine subjektive Sichtweise erfordert. So entschloss ich mich, eine blinde Person ausfindig zu machen, um mit ihr einen Stadtspaziergang zu unternehmen. Diesen Spaziergang konnten die AusstellungsbesucherInnen später ebenfalls unternehmen. Anhand der Beschreibungen des Blinden wurden sie durch die Strassen und Gassen St.Gallens gelotst.

Wie nanntest du die Arbeit?

«Meine Welt ist nicht deine Welt». Es ist doch so, dass nicht nur Blinde in einer «anderen Welt» leben, sondern auch ich und du. Du nimmst andere Dinge wahr als ich, sogar wenn wir uns gleichenorts aufhalten. Ich mag diese eingenartige Existenzform.

So wie die Spiegelinstallation «Meines Erinnerns, dessen ich völlig sicher zu sein glaube» in Katharinen in St.Gallen?

Nun, diese Arbeit fokussiert einen Text, den ich in der St.Galler Kantonsbibliothek gefunden habe. Es ist der Text eines Hermann Wartmann, der im Ausstellungsgebäude aufgewachsen ist, Geschichte studiert hat und vor seinem Ableben seine sämtlichen Erinnerungen nieder schrieb. Im ersten Buch beschreibt er seine Kindheit in St.Gallen sehr bildhaft, auch das Leben im Ausstellungsgebäude, welches zuvor Kloster, dann Schule war und heute verschiedentlich genutzt wird. Ich fokussierte die Beschreibungen zu seiner Kindheit, wählte einige Sätze aus, die ich auf Spiegel (DIN A3) gravieren liess. Die Spiegel platzierte ich im Raum. Ich wollte herausfinden, wie sich die Zeiten, die gelesene Vergangenheit mit der gefühlten Gegenwart verbinden, wie die sich die beim Lesen einstellenden Bilder zum Gebäude mit der Realität verhalten.

Aber da sind Billionen von Menschen mit einer Erinnerung. Bist du speziell am Erinnerungsbild interessiert, oder ist da etwas Besonderes am Nicht-Vergessen?

Die Erinnerungszitate sind sehr bildhafte Beschreibungen der Gebäudenutzung vor ca. 150 Jahren. Ein Satz lautete zum Beispiel: «Vom Leben draussen sah und vernahm man nichts als ein halblautes Wagengerassel von den Fuhrwerken, die über den Bohl fuhren», während heute ein Mc Donalds die Sicht auf den mit Bahn und Bus befahrenen Platz versperrt.

Woher kamen die Zitate?

Ich wusste, dass das Gebäude einst als Kloster genutzt wurde. In der Hoffnung, ein Tagebuch einer Nonne zu finden, suchte ich das Kantonsarchiv auf. Ein solches Tagebuch existierte nicht, stattdessen machte mich ein Kantonsarchivar auf die «Erinnerungen» von Hermann Wartmann aufmerksam. Das Manuskript durfte ich mit Handschuhen betrachten. Schliesslich arbeitete ich mit dem fünfbändigen Transkript.

Du sagst irgendwo: «Ich denke, dass die effektive Tätigkeit einer Künstlerin in der Aufbereitung reiner Forschung des Unbekannten besteht.»

Diese Aussage tönt ein bisschen pompös. Ich dachte an den Umstand, dass es zu viele Kunstschaffende gibt, die mit ihren Arbeiten ein langweiliges Bild von zeitgenössischer Kunst herstellen. Vielleicht liegt es an der seit Beuys etablierten Meinung, dass jeder Künstler sein kann? Oder bereits seit den Ready-Mades von Duchamp oder den Dadaisten? Es scheint ein grosses Unwissen und eine damit verbundene Unsicherheit vorhanden zu sein. Ich meine, dass Kunstwerke aus Erkenntnissen entstehen und auch zu neuen Erkenntnissen führen sollen.

Hast du ein gutes Beispiel für diese Art Kunstwerk?

Jene Kunst, die neue Sicht- oder Denkweisen ermöglicht, berührt mich am meisten. Sie macht mich wach.

Deshalb hast du den Astrophysiker Ben Moore eingeladen, das Universum zu beschreiben?

Ben Moore beschreibt die Beschaffenheit des Universums. Wie würde es sich da draussen anfühlen, was würde man sehen oder hören. Er beruft sich dabei auf physikalische Gesetze und nicht auf Science Fiction. Die Gesetze kennen wir, bloss verhalten sie sich ausserhalb der Erdatmosphäre anders. Er beschreibt etwas, was wir mit technischen Instrumenten nicht gänzlich erfassen können, mathematisch aber berechnet und vermutet werden kann – womit er uns an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens treibt.

Du sprichst viel über abwesende Dinge.

Das Abwesende kann sehr präsent sein.

Du erwähnst oft ein Bild, das man sich zuerst vorstellt und erst dann sieht. Was hat es mit diesem Bild auf sich? Wie wichtig ist es dir es zu fördern und zu übertragen?

Ich weiss nicht, eigentlich sollte es bei der Vorstellung bleiben. Das fände ich für meine Arbeit am konsequentesten. Ich wünsche mir haarscharfe, detaillierte Bilder im Kopf meiner Ausstellungsbesucher. Es ist auch auf die klassische Konzeptkunst bezogen – Kunst beinhaltet Dinge und Wörter, die etwas verstecken, das nicht zu sehen vorgesehen ist.

Zum Beispiel, lass uns zu deinem eigenen klassischen Stück zurück gehen – Flashback (2007)

Es ist ein Werk aus diversen Begriffen, die mentale Bilder auslösen sollen.

Mich nimmt‘s wunder, wie sich das jemand vorstellt, der das liest, ohne etwas über das Werk zu wissen. Ist das ein Effekt das es hat?

Ich meine, Flashback ist ein sehr einfaches Werk, das immer etwas anderes enthüllt, als es eigentlich zeigt. Es ist wie wenn ein Geheimnis erzählt und dabei trotzdem bewahrt wird. Flashback beinhaltet fast alle Elemente die mir wichtig erscheinen.

Welche Elemente?

An dieser Stelle sollte man zurück gehen und das Interview von vorne lesen.

Somnambule Zeichen, 2011


Meine Welt ist nicht deine Welt, 2008



Meines Erinnerns, dessen ich völlig sicher zu sein glaube, 2010



Die Beschreibungen des Atrophysikers Ben Moore wurden transkribiert und in “Geografie der Freiheit” publiziert. Urkunde, 2019


Flashback, 2007