Gespräch mit der Künstlerin
Teil 1: Im Dachgeschoss
Céline Gaillard: Video Arte Palazzo Castelmur ist eine ortsspezifische Ausstellung: Wie alle anderen Künstlerinnen und Künstler hatten auch Sie die Aufgabe, einen Beitrag für den Ort zu schaffen. Sie haben sich bei Ihrer Arbeit mit der Erinnerung an das Leben im Palazzo auseinandergesetzt. Was hat Sie dazu geführt, sich mit diesem Thema
zu beschäftigen?
Karin Karinna Bühler: Bei der Begehung fand ich es auffallend und erstaunlich, dass dieses sehr grosse, prunkbeladene Gebäude mitten in einem Bauerndorf steht. Die Geschichte war relevant für mich, um über-
haupt zu begreifen, was hier vorgeht. Den Schlossanbau habe ich bei näherer Betrachtung als eine Art aufgeblasene Fassade, als eine Attrappe eines Traums empfunden, die mit feinsten Tapeten, Bodenbelägen, Möbeln und Trompe-l’OEil-Malereien ausgestattet ist.
Das ganze Setting wirkte auf mich ausgesprochen märchenhaft und wie in einer Zeitkapsel bewahrt. Besonders befremdend empfand ich denn auch, dass das komplette Inventar vorhanden war und doch kaum
Gebrauchsspuren aufwies. Dieses Fehlen von Lebenszeichen führte zur Frage nach dem Leben im Palazzo. Ich wollte einstige Bewohner und Bewohnerinnen ausfindig machen, um von ihren Erinnerungen zu
erfahren.
Céline Gaillard: Die Recherchen sind ein sehr wichtiger Teil Ihrer Arbeit. Sie waren auch im Archiv in Chur, um die Familiengeschichte zu erkunden. Wie haben Sie schliesslich den letzten Nachfahren, Giorgio Biancardi, ausfindig gemacht?
Karin Karinna Bühler: Erst einmal eignete ich mir Wissen an. So habe ich mich in die Bergeller Geschichte und das vorhandene Material zum Palazzo Castelmur eingelesen. Dabei bin ich auf eine kurze Pressemit-
teilung zum Tod von Anna Biancardi gestossen. Sie wurde als «L’ultima de Castelmur» bezeichnet. Auch ihr Sohn Giorgio Biancardi wurde erwähnt. Diesen Urururneffen der Baronessa machte ich ausfindig und besuchte ihn bei ihm zu Hause am Ortasee.
Céline Gaillard: Sie haben auch viele Fotos gemacht. Schon bei der Begehung. Eigentlich haben Sie alle Ecken des Hauses interessiert. Auch das Dachgeschoss.
Karin Karinna Bühler: Die Fotos waren Erinnerungshilfen, um mir später im Atelier die Situation vor Augen führen zu können. Bei der Begehung realisierte ich, dass ich in Räume gelangte, die man als Besucher des Museums nicht betreten kann. Diesen Moment des Verborgenen und doch Vorhandenen fand ich spannend – und er führte dazu, diese Fotos für meine Arbeit zu benutzen. Sie zeigen, was man sonst nicht sieht. Mit den Texten ist es genauso.
Céline Gaillard: Durch die gesammelten Erinnerungen machen Sie in Ihrer Arbeit eine Zeit erfahrbar, die vergangen ist, also ebenfalls etwas, wozu der heutige Museumsgast keinen Zugang hat. Deswegen hatten Sie auch die schöne Idee, dass wir das Gespräch hier oben im Estrich, wohin man sonst nicht gelangt, beginnen. Für Sie war das
Begreifen des Schlosses als Ganzes ganz wesentlich. Das beinhaltete also auch den Estrich. Und da sehe ich eine schöne Parallele, weil der Estrich zudem ja auch ein Ort ist, an dem Gegenstände bewahrt werden, die der Vergangenheit angehören. Eigentlich ist es ein Ort, wohin Erin-
nerungen verlagert werden.
Karin Karinna Bühler: Die Texte, die auf Oral History beruhen, stellen eine Brücke in die Gegenwart her. Mit den angeeigneten Erinnerungen können die Räume anders wahrgenommen werden. Das vor sich hin-
schlummernde Gebäude wird durch die Beschreibungen beseelt.
Teil 2: Im grünen Schlafzimmer
Céline Gaillard: Sie erzählten, dass Sie verschiedene Personen befragt hatten. Wer war alles darunter?
Karin Karinna Bühler: Am Anfang meiner Recherche war überhaupt nicht klar, wen ich alles kennenlernen würde und ob sich Erinnerungen zum Gebäude und dem Leben darin sammeln liessen. Am Ende hatte ich mit allen noch lebenden Personen, die einst im Palazzo gewohnt hatten, gesprochen. Das sind die fünf Geschwister der Verwalterfamilie, die in den 1960er-Jahren das Schloss unterhielt: Gian Andrea Walther, sein
Bruder Giacomo, seine Schwestern Angela, Silvia und Clelia und auch Clelias Mann, Hans Rudolf. Giorgio Biancardi, den Urururneffen der Baronessa, habe ich bereits erwähnt. Erst nachdem ich sämtliche Interviews transkribiert hatte, konnte ich die Qualität und die
Menge der Aussagen erkennen.
Céline Gaillard: Im Kunstmuseum St. Gallen habe ich eine Arbeit von Ihnen gesehen, die man sich in einer Installation anhören konnte. Auf einer Schaukel sitzend und mit Kopfhörern ausgestattet, hörten die Besucherinnen und Besucher Aussagen von fünf- bis siebenjährigen und älteren Personen, die Sie befragt hatten. Danach, was ihnen wichtig war oder ist im Leben. Die von Ihnen befragten Leute gaben Gefühle und Träume preis – dabei ist eine sehr intime und sensible Arbeit entstanden, die mich fasziniert hat. Worauf ich aber hinaus will, ist, dass man die Gedanken und die Gefühle hörte und sich dabei etwas vor dem geistigen Auge abspielte. Hier in dieser Videokunstausstellung wird die Arbeit zwar von Musik untermalt, doch Sie zeigen uns die Erinnerungen in Form von Textsequenzen und Bildern, wir lesen sie, sehen sie mit den Augen. Diese Methode war eine unerlässliche Bedingung des Mediums Video. Was hat das für Sie bedeutet?
Karin Karinna Bühler: Grundsätzlich verweigere ich mich, Bilder zu zeigen. Bilder werden mir zu schnell konsumiert. Sie sind in der heutigen Mediengesellschaft gewissermassen geistige Wegwerfartikel. Lesen oder zuhören bedeutet hingegen, sich einlassen. Daher sind
meine Arbeiten meist textgebunden. Durch das Lesen oder Hören eines Textes sollen Bilder im Kopf entstehen. Bei «Ich sehe (was war)» habe ich entschieden, das Transkript zu verwenden und nicht den O-Ton. Jeder befragten Person ordnete ich einen bestimmten digitalen Bilderrahmen zu, um den Urheber der Aussagen zu definieren und zu autorisieren. Wenn man bei einer Audioarbeit eine Stimme hört, kann man erkennen, ob ein Mädchen oder ein alter Mann spricht. Hier habe ich bestimmte Farben als Hintergrund gewählt, um den jeweiligen Personen eine Klangfarbe zu geben. Statt eine Stimme zu hören, kann man hier die Klangfarbe sehen. Weiter habe ich durch den Einsatz mehrerer kleiner Bildschirme die Linearität des Videomediums aufge-
löst. Die Betrachter entscheiden selbst, ob sie bei einer Geschichte bleiben, diese mitlesen oder zu einer anderen wechseln wollen. Jeder ist sein eigener DJ. Schliesslich ist es unsere Wahrnehmung, die Kunst definiert.
Céline Gaillard: Sie interessieren sich für Zwischenstellen, für das, was man nicht fassen kann; für Gedanken, Erinnerungen, Gefühle. Ich habe in einem fiktiven Interview Ihre Aussage gelesen: «Dinge ähneln Erinnerungen und Erinnerungen ähneln Dingen.» Was heisst das für Sie?
Karin Karinna Bühler: Erinnerung verstehe ich als mentales Abbild einer Begebenheit. Das Erlebte speichert sich in Erinnerungen. Ähnlich beschaffen sind auch Träume und das bildliche Vorstellungsvermögen. Allerdings sind diese unterschiedlichen mentalen Bilder in der Qualität erstaunlich identisch, sodass man die Herkunft der Bilder richtiggehend eruieren muss. Lässt sich das Setting einem bestimmten Erlebnis zuordnen? Könnte das mentale Bild durch ein Abbild aus dem
Fotoalbum oder aus der Tageszeitung ausgelöst worden sein? Fusst das Bild auf einer bildhaften Beschreibung?
Céline Gaillard: Deswegen wollten Sie diese Arbeit im Schlafzimmer zeigen, im Reich der Träume.
Karin Karinna Bühler: Im Schlafzimmer schläft man ein und wacht auf – das sind Übergangsphasen, die mich interessieren. In diesen stellen sich oft mentale Bilder ein; das sind jene Momente, in denen man sich an Träume und Gedanken erinnern kann. In einer Arbeit, die «Quasi aus dem Nichts» heisst, thematisierte ich diesen Zustand des Wegtretens. In dieser Übergangssituation bewegen sich Informationen frei zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Es ist ein hšchst kreativer Zustand der Ideenfindung und Bildwerdung.
Céline Gaillard: Eine andere Arbeit, die Sie 2008 für die Ausstellung A Town (Not a City) in der Kunst Halle Sankt Gallen konzipiert haben, haben Sie mit «Meine Welt ist nicht deine Welt» betitelt. Es handelte sich um eine Audioarbeit: Die Beschreibungen eines blinden Mannes führen den Zuhörer durch die Stadt. Sie fasziniert, dass wir alle in derselben Welt leben, aber eine unterschiedliche Wahrnehmung haben. Die Geschwister Walther, die Sie für «Ich sehe (was war)» befragt haben, haben ungefähr gleichzeitig im Palazzo gelebt. Wenn man ihren Äusserungen folgt, dann merkt man aber, dass es sich um absolut unterschiedliche Wahrnehmungen handelt. Einigen Geschwistern hat das Leben im Palazzo sehr gut gefallen, und andere haben sentimentale Erinnerungen. Eine Aussage finde ich besonders schön: Eine der
Schwestern sagt: «Ich stand lange vor dem Spiegel»– vor genau diesem Spiegel, vor dem wir nun sitzen und vor dem die Installation angebracht ist, und dann habe sie Kleider angezogen und sich vorgestellt, dass sie in einem Märchen sei. Sie stellt sich also in diesem Schloss, das als solches auftritt, aber eigentlich eben kein Schloss ist, vor dem Spiegel vor, wie es sich anfühlte, in einem richtigen Schloss eine richtige Prinzessin zu sein! Gibt es auch für Sie Passagen, die Sie mehr berührt haben als andere?
Karin Karinna Bühler: Es gab ganz viele Aussagen, diei mich berührt haben! Verblüffend fand ich, dass man zu einer «richtgen Zeit» da sein konnte – oder eben nicht. Und alle bildhaft beschriebenen Aussagen zum Leben im Palazzo haben sich bei mir fest verankert. Sie kratzen an der prunkvollen Oberfläche des Sichtbaren.
Céline Gaillard: Man spürt es beim längeren Betrachten, aber auch anhand Ihrer Erzählungen, dass da ein sehr sensibler Zugang stattgefunden hat. Sie lassen in Ihren Arbeiten ja häufig andere Menschen sprechen. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlerinnen, die gerade in der Videokunst seit den 1970er-Jahren selbstreferenziell arbeiten. Sie agieren in ihren Videos als Protagonistinnen und thematisieren oft die Tradition von Künstlerinnen. Sie machen das bewusst nicht. Warum? Weshalb die Entscheidung für die anderen?
Karin Karinna Bühler: Als Akteurin im darstellenden Sinn fühle ich mich nicht wohl. Ich bin keine Performancekünstlerin, sondern definiere mich vielmehr als Dirigentin oder Regisseurin. Dabei geht es mir um die Aktivierung der Wahrnehmung und des Vorstellungs-
vermögens, und das ist nicht an eine Sicht- oder Hörbarkeit meiner Person gebunden. Ich möchte etwas auslösen mit dem, was ich mache.
Bei den Audioarbeiten schneide ich jeweils meine Fragestellungen, meine Stimme, weg. Das kommt vielleicht daher, dass ich meine Stimme nicht gern höre, und ich sehe auch nicht gerne Fotos von mir. Hingegen finde ich es grossartig, wenn Menschen bereit sind, ihre Meinung
zu sagen. Jede Aussage ist richtig, es gibt kein Falsch! Meine Aufgabe ist das sorgsame und wirkungsvolle Arrangieren der Textpassagen.
Céline Gaillard: Es sind auch immer Themen, die den Menschen interessieren oder interessieren sollten.
Karin Karinna Bühler: Erinnerungen sind identitätsbildend. Geschichte genauso. Im Zuge der Virtualisierung unseres gegenwärtigen Lebens sollte man sich damit auseinandersetzen. Erinnerungen beruhen auf
Erfahrungen, und diese wiederum basieren auf sinnlichem Erleben. Ich plädiere sozusagen für Sinnlichkeit, damit keine fahlen mentalen Bilder entstehen. Im Grunde geht es mir um das mentale Bild in seinen
verschiedenen Facetten, dem Vorstellungsvermögen, auch um die Idee und die Vision. Ich möchte mit meiner Arbeit erreichen, dass Bilder festhängen. Und zwar eben nicht vorgeführte Bilder, sondern aufgrund des eigenen Vorstellungsvermögens entstandene, selbst gemachte.
Diese Bilder sind das Werk.
Céline Gaillard: Sprechen wir nochmals das Sehen an: Sie haben bereits erwähnt, dass Sie keine Videokünstlerin sind. Dem Medium haben Sie sich in erster Linie in einem konzeptuellen Ansatz genähert. Einen Bezug haben Sie auch mit dem Titel des Werks geschaffen.
Karin Karinna Bühler: «Video» als Begriff kommt aus dem Lateinischen und heisst: «Ich sehe». Wenn jemand ein Video macht, dann hält er fest, was er sieht. Ich bin von dieser Übersetzung ausgegangen und habe in Klammern «was war» angefügt, weil das, was ich hier in einem videotechnischen Medium zeige, Erinnerungen sind. Ich definiere mich nicht als Videokünstlerin, mache keine Videoarbeiten. Mein konzeptuelles Vorgehen und die situationsbezogene Arbeitsweise waren der Grund für die Einladung zu dieser Videokunstausstellung. Einzig empfinde ich mein Schaffen, das sich mit der Imagination auseinandersetzt, als sehr filmisch.
Arte Hotel Bregaglia, Hier und Jetzt Verlag, 2014
©Céline Gaillard, Karin K. Bühler