Karin Karinna Bühler

  Bildende Künstlerin und Informationswissenschaftlerin. Kritische Neugierde prägt meine Arbeit. Ich analysiere unsere Gesellschaft und hinterfrage die Art und Weise, wie wir mit Sprache, mit Geschichte und Geschlecht umgehen.  

2018
Grundlagentext, Recherche, Konzeptkunst, Semiotik

Die Welt hinter den Zeichen

Gedanken zu Semiotik



Ein Zeichen ist wie ein verriegeltes Türschloss, für das wir einen Schlüssel benötigen, um es zu verstehen.

ZEICHEN
Was ist ein Zeichen?
Die Welt ist voller Zeichen. Der Begründer der Semiotik, Charles Sanders Pierce, meinte gar: Das gesamte Universum ist mit Zeichen durchdrungen, wenn es nicht sogar ausschliesslich aus Zeichen besteht.

ZEICHEN ERKENNEN
Die Evolutionsmechanismen haben uns auf Zeichenerkennung konditioniert. Das richtige Interpretieren von Zeichen sichert das Überleben und die Fortpflanzung. Zeichen zu sehen und ihre Bedeutung zu kennen hält uns am Leben. Moos an der einen Baumstammseite zeigt uns woher das Wetter kommt und wo wir Pilze finden. Wolken am Himmel - schwarze aufgeballte Cumuli lassen uns den Schirm einpacken oder einen Unterschlupf suchen. Der gehässige Ausdruck der Kollegin lässt unsere Frage auf später verschieben. Die breitspurige Gestik einer Person lässt uns einen Bogen um sie machen. Ein Kurven-Verkehrsschild lässt uns abbremsen, um nicht über die Böschung zu donnern. Beim Rotlicht stoppen wir, andernfalls kommt es zu einem Zusammenstoss. Zeichen gibt es überall und zuhauf.

HANDZEICHEN
Gebärdensprache
H-A-L-L-O
Hallo.


WINKEN
Handzeichen gibt es auf der ganzen Welt, doch sie werden unterschiedlich interpretiert. So bedeutet dieses Zeichen (Kreis aus Zeigefinger und Daumen) bei uns, in Deutschland, Skandinavien und Nordamerika Spitze!.
In Japan steht das Zeichen für Geld oder Kondom. Aber Achtung: In Brasilien und Frankreich heisst die Geste Arschloch.

DAUMEN HOCH
Wer in Deutschland, den USA oder Korea den Daumen hebt gibt entweder seine Zustimmung oder möchte im Auto mitgenommen werden. Australier, Iraner und Nigerianer signalisieren mit der Geste "Verpiss dich!". In Israel dagegen verwenden Prostituierte dieses Handzeichen, um ihre Dienste anzubieten.

AN DIE STIRN TIPPEN
Du spinnst ja!, meinen wir, wenn wir uns mit dem Finger an die Stirn tippen. In den USA und Rumänien drückt man damit genau das Gegenteil aus. Dort werden besonders schlaue Gedanken mit dieser Handbewegung kommentiert.

T
Was ist das?
ein Buchstabe?
ein Bistrotisch?
ein stumpfer Nagel?
ein Doppelhammer?
ein Gebäude von oben?

Sobald Zeichen eine Zeichenfolgen bilden, ein Wort, einen Text ergeben, entsteht eine Geschichte. Das Erkennen der Bedeutung von Zeichen lässt uns an einer Geschichte teilhaben.

[Bild 1]

GAUNERZINKEN
Das Wort Zinken oder Zink bezeichnet die geheime Verständigung durch Laute, Gestik oder Mimik, vor allem aber durch grafische Zeichen. Gaunerzinken gibt es seit Jahrhunderten. Die Symbole tauchen auch in der Schweiz immer wieder auf – sei es an Hausmauern, Zäunen oder am Briefkasten. Einbrecher nutzen die Symbole, um untereinander Hinweise zu geben, ob und wann sich Betteln oder ein Einbruch lohnt. 

Zinken waren Ausdrucksmittel einer Bevölkerungsgruppe, die ständig mit Repressionen rechnen musste. Dazu rechnete man Verbrecher und kleine Gauner, aber auch Bettler, Hausierer, Fahrende, Hobos, Landstreicher, Kesselflicker und andere Vaganten. Sie mussten geheime Kommunikatonsformen entwickeln und benutzen, um ihr Dasein zu sichern.

[Bild 2]

EAU D'HE ÜN SÖMMI
Das kommt mir spanisch vor. (Es ist rätoromanisch.)
Die Spanier sagen: Das kommt mir chinesisch vor. (Esto me suena a chino.)
Die Engländer sagen: Das kommt mir griechisch vor. (That's Greek to me.)

SEMIOTIK
In der Welt hinter den Zeichen ist die Bedeutung, die Semiotik, angesiedelt. Was hat das Zeichen, die Zeichenfolge zu bedeuten?
Es ist eine Übereinkunft von verschiedenen Menschen, einem Zeichen eine gewisse Bedeutung zu erteilen. Diese Bedeutung kann genauso einen Gegenstand abbilden wie ein Gefühl. Immaterielle Phänomene sind schwieriger zu umschreiben, weil man zur Bestätigung des Gemeinten nicht mit dem Finger auf einen Gegenstand zeigen kann. Sobald wir einem Zeichen eine Bedeutung zuweisen, können wir es für eine Botschaft verwenden und miteinander kommunizieren.

Charles Sanders Peirce (1839–1914) war Begründer der Semiotik, der Lehre von den Zeichen. Nach Peirce sind Zeichen nicht nur die Grundlage jeder Kommunikation, sondern auch die Voraussetzung für jede Form der Erkenntnis, denn jedes Denken ist ein Denken in Zeichen. Die Theorie begreift das Zeichen nicht als ein Ding, als ein statisches Objekt, sondern als eine dreistellige (triadische) Relation zwischen einem Mittel, also dem materiellen Zeichen, einem Objekt, auf das sich das Zeichen bezieht, und einem Interpretanten, also dem System, in dem das Zeichen zu verstehen ist.

“Ein Zeichen ist ein Ding, das dazu dient, ein Wissen von einem anderen Ding zu vermitteln, das es, wie man sagt, vertritt oder darstellt. Dieses Ding nennt man Objekt des Zeichens. Die vom Zeichen hervorgerufene Idee im Geist, die ein geistiges Zeichen desselben Objekts ist, nennt man Interpretation des Zeichens.”
– C.S. Peirce: Kurze Logik

KNOWLEDGE PRODUCTION IN ART
Im Alltag beziehen sich die Zeichen auf die Wirklichkeit, sie haben ein reales Objekt, und ein Sprecher darf in der Regel davon ausgehen, dass der Andere das Gemeinte versteht. In der Wissenschaft verweisen die Zeichen auf Notwendigkeiten und folgen fachspezifischen Regeln: verwendete Begriffe müssen definiert, Aussagen belegt und Schlussfolgerungen bewiesen werden. Im Bereich der Kunst kann ein Zeichen immer nur Möglichkeiten vermitteln; es gibt keine festen Bedeutungen, sondern nur individuelle Interpretationen.

[Bild 3]

STUHL
Wahrscheinlich war auch Joseph Kosuth, Konzeptkünstler der ersten Stunde, von Peirce's Theorie fasziniert. One and Three Chairs ist ein Kunstwerk aus dem Jahre 1965. Das Werk besteht aus einem Stuhl, einer Fotografie dieses Stuhles und einem Lexikoneintrag mit einer Definition des Wortes Stuhl. Kosuth hinterfragt die verschiedenen Erscheinungsformen - wirklicher Sessel, ein Foto desselben und eine Beschreibung dessen in einem Wörterbuch.

Kunst ist das, was man sich dazu denkt.

KURRENTSCHRIFT
Die deutsche Kurrentschrift, insbesondere im Ausland nur als Kurrent bezeichnet, ist eine Schreibschrift, eine Laufschrift (lateinisch currere laufen). Im gesamten deutschen Sprachraum war sie etwa seit Beginn der Neuzeit und in der Schweiz bis Anfang des 20. Jahrhunderts die allgemeine Verkehrsschrift, Amts- und Protokollschrift. Die deutsche Kurrentschrift wurde typischerweise mit einem Federkiel, später dann auch mit einer Bandzugfeder geschrieben, was zu richtungsabhängigen Änderungen der Strichstärke führte. Im 19. Jahrhundert kam es in Mode, mit der neu entwickelten stählernen Spitzfeder zu schreiben, welche an- und abschwellende Linien erzeugte. Die sehr schräge deutsche Schreibschrift mit großen Unter- und Oberlängen und mal dünnem, mal dickem Strich ist zwar dekorativ, aber technisch schwer zu schreiben. Um den Kindern das Schreibenlernen zu erleichtern, wurde der Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 vom preußischen Kultur- und Schulministerium beauftragt, zwei Ausgangsschriften für das Erlernen von Schreibschrift in der Schule zu entwerfen. Sütterlin vereinfachte die Buchstabenformen, verringerte die Ober- und Unterlängen (Lineatur im Verhältnis 1:1:1), stellte die relativ breiten Buchstaben aufrecht und ließ sie im Gleichzug mit einer Kugelspitzfeder schreiben. Die deutsche Schrift oder Kurrentschrift wird fälschlicherweise oft Sütterlinschrift genannt.

[Bild 4]

[Bild 5]

Beim Geschriebenen im obigen Bild handelt es sich um die deutsche Sprache. Wer aber nicht gelernt hat, diese Zeichen zu entziffern, dem bleibt die Bedeutung verborgen. Meine Oma (1916-1997) konnte diese Schrift lesen. Sie hatte die Altdeutsche Schrift noch in der Schule gelernt.

Erstaunlich ist, dass viele Dokumente in Kurrentschrift erhalten und durch Archivbesuche zugänglich sind. Das Lesen und Verstehen der Zeichen macht die beschriebene Zeit sehr greifbar.

In Afrika sucht man Archive vergebens. Dort haben Geschichtenerzähler diese Aufgabe übernommen. Auch der südasiatische Kulturraum ist wie kein anderer eine orale, also mündlich geprägte Gesellschaft. Mit einer ausgeklügelten Memorisierungskultur sorgten die Geschichtenerzähler und Barden für beeindruckende Erinnerungsleistungen über viele Generationen hinweg.

Man stelle sich vor, 1855. Es gibt noch keine Eisenbahn, keine Autos, keine Strassenbeleuchtung. Noch hat das Pferd eine sehr wichtige Rolle in der Gesellschaft. So auch das Pferdegeschirr.

P
f
e
r
d
e
g
e
s
c
h
i
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r

Kulturwissen, alle Erlebnisse und Erfahrungen sind Teil der Bedeutung. Daher können zwei Menschen niemals ein exakt gleiches Verständnis einer Sache haben.

Was passiert, wenn ein Zeichen seine Bedeutung verliert?
Was passiert, wenn man sich nicht mehr erinnern kann?


Bild 1: Gaunerzinken "bissiger Hund"

Bild 2: Tamilisches Schriftzeichen


Bild 3: Joseph Kosuth, One and Three Chairs, 1965



Bild 4: Sütterlinschrift (Hello World von Karin Karinna Bühler, 2018)



Bild 5: Kurrentschrift (Felix Wilhelm Kubly, 1852)