Oh, Lucy! Der Blog
Wäre ich 2014 in der Kunstbibliothek Sitterwerk nicht zufällig auf das Buch Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972 gestossen, hätte ich wohl nie eine Reise in die USA in Erwägung gezogen – und ein einmaliges Abenteuer, wesentliche Einsichten, unvergessliche Momente mit meinen Wegbegleiterinnen, sowie die grandiosen Landschaften Amerikas wären mir vorenthalten geblieben.
Das Buch verfasste Lucy R. Lippard, eine bedeutende amerikanische Kunstkritikerin, Autorin, Ausstellungsmacherin und Aktivistin. Es enthält chronologisch zusammengestelltes Bild- und Textmaterial zum Kunstgeschehen der späten 1960er-Jahre, jener Zeit, in der fundamentale gesellschaftliche Veränderungen stattfanden und sich entmaterialisierte und vom Ausstellungsraum los gelöste Kunstpraktiken wie Konzeptkunst, Video, Performance oder Land Art etablierten.
Das Förderprogramm AiR – Artist in Residence der Ausserrhodischen Kulturstiftung stellt keinen Raum in einer bestimmten Stadt zur Verfügung, sondern ermuntert die Kulturschaffenden ein auf ihre Bedürfnisse massgeschneidertes Projekt einzureichen. Meine Recherche Oh, Lucy! sah nicht nur eine Stadt vor, sondern gleich mehrere Aufenthaltsorte von der Ostküste bis an die Westküste Amerikas: von Washington DC und New York, über A-Z West bei Joshua Tree und New Mexico nach San Francisco und Los Angeles.
Da ich meine Zeit also nicht in einem Atelier verbrachte, sondern in verschiedenen Wohnungen, Hotelzimmern und einem Wohnmobil, habe ich mir einen virtuellen Arbeitsplatz zurechtgelegt: einen Blog. Er erwies sich als idealer Spielplatz, Reflexionsraum, Anlass für Interview-Anfragen und gezielte Beschäftigung. Das Gesehene, Erlebte, Erkannte zerrieselte nicht nur zwischen den Fingern, sondern formte sich zu Geschriebenem. Weil meine Recherche zu Konzeptkunst und Feminismus, gespickt mit Interviews und Erlebnisberichten zu den verschiedenen Etappen im Blog nachzulesen sind, rücke ich in dieser Flaschenpost die Person in den Fokus, auf deren Spuren ich Amerika bereiste: Lucy R. Lippard.
Die unterdessen 85-Jährige verkörpert Konzeptkunst und Feminismus in Person und fasziniert als nimmermüde und noch immer vielbeschäftigte Persönlichkeit, die sich gegen strukturelle Missstände in der Gesellschaft einsetzt. In den Archives of American Art in Washington DC durfte ich die inspirierende und unterhaltsame Korrespondenz zwischen ihr und unheimlich vielen schon damals bekannten oder wieder vergessenen Künstler:innen lesen. Als geachtete Kunstkritikerin diskutierte sie bei der Begriffsfindung der Konzeptkunst mit und war in diverse feministische Initiativen involviert.
In den 1990er-Jahren hat sich Lippard in New Mexico niedergelassen, um der Kunstwelt zu entkommen; sie kuratiert allerdings immer noch Ausstellungen und schreibt Beiträge für Kunstbücher. Es wurden kürzlich auch Ausstellungsprojekte von Kuratorinnen realisiert, die auf ihrem Buch Six Years und der wegweisenden Ausstellung 26 Women Artists basieren.
An ihrem Wohnort in New Mexico konnte ich ihr kurz «Hallo» sagen und ihr Fragen hinterlassen, deren Antworten mich soeben erreichten. Zu ihrer aktuellen Situation sagt sie: «Mein politischer Aktivismus und mein Feminismus fliessen in alles ein, was ich tue. So gebe ich seit 26 Jahren ein monatliches Mitteilungsblatt für die Gemeinde meines kleinen Dorfes heraus und bin Mitglied des Planungsausschusses der Feuerwehr und der Wasserbehörde. In den letzten 30 Jahren habe ich mich auf lokale Orte und lokale Geschichte konzentriert. So wie sich die Welt verändert, so verändert sich auch die Arbeit, die wir zu tun haben.»
Zu Beginn meiner Reise noch hatte mich die St.Galler Filmemacherin Morena Barra, dich mich in New York besuchte, während einer Filmaufnahme gefragt, ob ich mich Feministin nenne. Ich entgegnete, ich sei eine Künstlerin, die sich kritisch mit unserer Gesellschaft auseinandersetze. Als solche würde ich mich eher feministische Künstlerin als Feministin nennen.
Am Ende dieser Reise aber – vor allem nach dem Lesen des Interviews mit Lucy R. Lippard – fällt es mir einfach, mich auch Feministin zu nennen. Für Lippard ist klar: «Es beunruhigt mich, wenn Frauen sich nicht als Feministinnen bezeichnen wollen. Sie kommen zu mir und sagen, sie seien starke Frauen und stünden für sich selbst ein. Aber Feministinnen setzen sich für alle Frauen ein. Feminismus beeinflusst alles, was ich tue.»
Das überzeugt.