Ich bin mit Achtung
Ratlos. Am Computer sitzend. Das revolutionäre Gedankengut nicht in der Schublade wissen wollend.
28.4.2024
Während vier Monaten habe ich nach Worten gesucht. Worte einer Frau zur Zeit der St.Gallischen Revolution (ca. 1790-1803). Jener Zeit also, in der nach dem Vorbild der Französischen Revolution die Leibeigenschaft im St.Galler Fürstenland aufgehoben, der Territorialstaat aufgelöst und der Kanton St.Gallen gegründet wurde. Ich bin in ein Stück Demokratiegeschichte, auch ein Stück Emanzipationsgeschichte eingetaucht. Ziemlich tief. In der Dunkelheit vergangener Zeiten versuchte ich Begebenheiten in den Lichtpegel zu rücken – und diese Begebenheiten von der Rückseite her zu betrachten, jener Seite, die in der Regel geflissentlich nicht beachtet wurde. So mäanderte ich durch Quellen aus jener Zeit, suchte explizit kaum oder nicht beachtete Stimmen und versuchte die Geschichtsschreibung zu sezieren. Ich wollte ergründen, weshalb Geschichte so mächtig ist. Wir wissen beispielsweise, dass Putin geradezu geschichtsversessen ist und seinem Volk seine ureigene Version der aktuellen und auch vergangener Geschehnisse vermittelt – und wir ahnen, dass das einen triftigen Grund hat.
Weshalb waren Frauen in der Ostschweizer Befreiungsgeschichte, ausgelöst durch die Französische Revolution, am Ende nicht mitgemeint, obwohl sie tatkräftig mitwirkten? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war nur Männersache, was sich leider auch heute noch in allen Bereichen in unserer Gesellschaft manifestiert. Erst mit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 kann sich die Schweiz eine Demokratie nennen. Entsprechend können Frauen auf eidgenössischer Ebene erst seit knapp fünfzig Jahren politische Entscheidungen treffen und Werte mitdefinieren. In den beiden Appenzeller Halbkantonen ist es lediglich rund dreissig Jahre her, dass auch Frauen auf kantonaler Ebene mitentscheiden dürfen. Diese strukturelle Diskriminierung von Frauen, die in unserer Zeitrechnung weit zurückführt, hat die Historikerin Magdalen Bless-Grabher in «Liederliche Weibsbilder, Ehrenjungfern und Frauenzimmer – Ein Streifzug durch die Rechtsgeschichte»» analysiert. Es ist faszinierend, wie sie anhand von Rechtsdokumenten das Leben und die rechtliche Stellung der Frauen rekonstruiert und damit eine bisher vernachlässigte Perspektive auf die lokale Geschichte eröffnet. Sie zeigt auf, wie sich die gesellschaftlichen Normen und Rechtsvorschriften seit dem Mittelalter veränderten und wie diese Veränderungen die Lebensrealität der Frauen prägten. Dabei wird deutlich, dass die Geschlechterungleichheit nicht nur ein Ergebnis individueller Vorurteile war, sondern tief in den Strukturen der Gesellschaft verwurzelt war – und noch immer ist. Bless-Grabers Arbeit ist denn nicht nur eine Bereicherung für das Verständnis der Vergangenheit, sondern auch ein Aufruf zur Reflexion über die Gegenwart und die anhaltenden Herausforderungen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und soziale Gleichstellung.
Und da ist die Entdeckung von Maria Künzli! Ihre «Geschichte meiner Familie – vornehmlich während der sturmvollen Jahre der st.gallischen Revolution» spielt in dieser Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Ihr Vater war einer der drei wichtigen Anführer der st.gallischen Revolution. Maria Künzli aus Gossau war Zeitzeugin der gesellschaftlichen Umwälzungen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, war Leserin von aufklärerischer Literatur und hatte auch Briefe verfasst. Ein paar wenige dieser Briefe habe ich im Ortsbürgerarchiv entdeckt – und zusammen mit einer Historikerin transkribiert. Diese handschriftlichen Dokumente geben Einblick in ihre Gedanken zur Veröffentlichung ihrer Geschichte und auch in ihre Lebensrealität.
Während dieser – und diverser anderer Recherchen zuvor – habe ich bereits viele Archive besucht und kaum Quellen von Frauen im 19. Jahrhundert gefunden. Die Entdeckung der Schriften von Maria Künzli ist deshalb wichtig und einzigartig. Dieser Fund ermöglicht eine andere Perspektive auf die lokale Geschichtserzählung, die der in der Regel von Beamten und Archivaren der wohlhabenden, konservativen, klerikalen Machthabern beschrieben wurde. Mit dem gefundenen Material ist eine Narration möglich, die mir sooo lange gefehlt hatte. Manchmal realisiert mensch erst, dass mensch etwas vermisst, wenn mensch es findet.😉
29.4.2024
Oft sehen wir ähnliche Muster von Konflikten, Ungerechtigkeiten und Fehlern, die sich in der Geschichte wiederholen. Trotz des Wissens um vergangene Ereignisse scheinen wir nicht in der Lage zu sein, ähnliche Fehler zu vermeiden.
Warum lernen wir als westliche Gesellschaft nicht aus unserer Geschichte? Ein Grund mag darin liegen, dass die Geschichte so erzählt wird, dass wir uns kaum damit identifizieren. Ich selber habe meinem Geschichtslehrer zwar sehr gerne zugehört. Ich fühlte mich aber nie persönlich angesprochen oder betroffen. Ich hatte nie den Eindruck, dass die mir erzählte Geschichte meine Gegenwart direkt beeinflussen würde. Was sie aber tut.
Das hat wohl mit der zeitlichen Distanz zu tun, die mit den auswendig zu lernenden Jahreszahlen suggeriert wurde und auch – das meine ich jetzt herausgefunden zu haben – fehlten mir als junger Frau Identifikationsfiguren. Frauen kamen im Geschichtsunterricht nicht vor. Entsprechend beinhaltet die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben und gelehrt wird, Verzerrungen und Vereinfachungen, die dazu führen, dass bestimmte Aspekte ausgeblendet oder verzerrt werden (z.B. Anliegen von Frauen oder revolutionäre Gedanken). Meistens wird Geschichte aus der Perspektive der Mächtigen und Eliten geschrieben, wodurch die Erfahrungen und Perspektiven marginalisierter Gruppen vernachlässigt werden. Zudem wird Geschichte oft politisch instrumentalisiert, um bestimmte Narrative zu fördern oder politische Ziele zu unterstützen, um eine bestimmte, in der Regel konservative, politische Agenda zu fördern. Diese politischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Interessen gilt es aufzudecken und im Bewusstsein darum das Narrativ zu ändern.
Wir neigen dazu, Geschichte als etwas Abstraktes und Entferntes zu betrachten, anstatt sie als lebendigen Teil unserer Gegenwart zu erkennen, der uns weiterhin beeinflusst. Die Art und Weise, wie wir Geschichte betrachten, ist stark von unserer kulturellen, philosophischen und spirituellen Perspektive geprägt. Während wir in der westlichen Welt die Geschichte eher als Vergangenes betrachten, sehen beispielsweise indigene Völker sie als eine lebendige Kraft, die ihre Gegenwart und Zukunft beeinflusst.
30.4.2024
Ich möchte keine weitere History, sondern eine Herstory schreiben, eine Stück Demokratiegeschichte, eine Version der Geschichte, die ich gerne erzählt bekommen möchte, ein Narrativ, mit dem ich mich identifizieren kann – und auch eines, von dem ich lernen kann für eine Leben in einer gerechten, diversen Gesellschaft. Ich habe die Schnauze voll von der patriarchalen Geschichtsschreibung, deren Narrativ mich zunehmend anekelt.
Dieser zunehmende Ekel hat meiner Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeit zu tun. Die Aussage «Man wird nicht als Feministin geboren, man wird Feministin» stammt von der bekannten feministischen Autorin und Aktivistin Gloria Steinem. Sie prägte diesen Satz in den 1970er Jahren, um zu betonen, dass Feminismus eine bewusste Entscheidung und ein Prozess ist, der durch Erfahrungen, Reflexion und Engagement geformt wird, anstatt einfach eine angeborene Eigenschaft zu sein. Anscheinend bin ich (unterdessen) Feministin genug, um die patriarchalen Strukturen in der Geschichtsschreibung zu erkennen – und sie auch beseitigen zu wollen.
3.10.2023
Ich beginne meine Recherche im Staatsarchiv St.Gallen. Auf anraten von Regula Zürcher konsultiere ich die «St.Galler Geschichte 2003», Bd. 4, S. 95ff. das Kapitel «Turbulente 1790er Jahre und das Ende der Frühen Neuzeit». In Band 4 gibt es eine Randspalte mit der Überschrift «Die Frauen und die Revolution».
«Obschon ohne politischen Rechte, beteiligten sich viele Fürstenländer Frauen an den Diskussionen über die künftige Staatsform, und sie ergriffen auch aktiv Partei. Schriftliche Nachrichten sind vor allem aus der Feder linder[1] Denunzianten[2] an äbtische Beamte erhalten. Aus konservativer Sicht handelte es sich um politisierte Hyänen, vergleichbar den Fischweibern (Marktfrauen) von Paris, die 1789 den König von Versailles in die Hauptstadt geholt hatten.
So wurde über die Frau des Landweibels Moser, die als Gastwirtin eine Parteigängerin der Harten war, berichtet, sie sei bereits des Teufels selbst; wenn sie einen linden Biedermann sehe, beschimpfe sie ihn, sodass sich keiner getraue, ihre Gaststube zu betreten. Auch unter der Frau des Lenggenwiler Ammanns litten die Gutgesinnten; sie rufe ihnen nach Belieben auf der Strasse und in die Häuser hinein: «Wartet, ihr Donner, ihr linden Bettseicher, man wird euch noch das Wasser machen.»
Andere wurden sogar handgreiflich: So hätten die Frau Pfisterin und noch einige Weiber von Gossau den Knecht des Ammanns von Oberbüren auf dessen Heimfahrtübel behandelt und geschlagen. Als sich in Gossau das (falsche) Gerücht einer Besetzung durch abttreue Truppen verbreitete und die Abwehr organisiert wurde, standen schon im ersten Augenblick auch Weiber an der Front; sie trugen Stangen, Hacken, Sensen und 1000 aller Arten Prügel auf den Platz, und die Mädchen sassen in Reihen auf dem Boden und machten Patronen.
Dass Frauen auch ohne offizielles Amt auf informellem Weg aktiv Einfluss nahmen, beweist Anna Maria Angehrn, im Volk wegen ihrer nahen Verwandtschaft zum verstorbenen Abt Beda Bäsi Ann genannt. Von ihr ist verbürgt, dass sie ihrem Gatten, dem Ammann von Niederwil, die Rede formulierte, welche er an der Gemeindeversammlung hielt. Diese wurde zuhanden der Regierung kopiert, worauf der Archivar die Frau als eines der parisischen Fischweiber in der st.gallischen Revolution bezeichnete.»
Wenngleich Frauen als aktive und durchaus mutige Mitstreiterinnen an der st.gallischen Revolution beschrieben werden, ist bereits an dieser Stelle das Problem der Geschichtsschreibung zu erkennen. Erstens sind die Frauen und ihre Beteiligung an der Revolution lediglich eine Erwähnung in der Randspalte wert. Zweitens werden nur die Aussagen von «linden Denunzianten an äbtische Beamte» zitiert – also Textstellen aus Briefen jener Beamten, die keine Veränderung der Machtverhältnisse, also keine Revolution wünschten. Entsprechend fallen die Schilderungen ÜBER Frauen ziemlich arg und einseitig aus. Schilderungen VON Frauen sind in Archiven ohnehin kaum zu finden; höchstens von adligen oder geistlichen Frauen. Und die waren in der Regel genauso wenig an einer Revolution, sprich Machtverlust, interessiert wie ihre Männer.
6.10.2023
Mich interessiert: In der Randspalte des Geschichtsbuchs (vgl. 3.10.2023) werden Frauen erwähnt. Sind von ihnen selber vielleicht doch Quellen erhalten? Und wenn dort nur die Sicht der linden Denunzianten wiedergegeben wird – was hätten die Harten zu berichten gehabt?
Nachdem ich mein Anliegen etwas detaillierter zu umschreiben versuchte, antwortet mir Regula Zürcher – ebenfalls vom Staatsarchiv:
Sehr geehrte Frau Bühler
Bitte entschuldigen Sie die verspätete Antwort auf Ihr Mail.
Ehrlich gesagt, bin nicht nur ich etwas ratlos, sondern auch meine Kollegen vom Benutzungsdienst.
Die Frage ist, ob sich überhaupt Zitate von Frauen aus dieser Zeit erhalten haben, da müssten Sie sich in der Literatur umsehen und ev. Archivstudien betreiben. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass Texte aus dieser Zeit entweder handschriftlich oder dann in einer alten Druckschrift vorhanden sind, d.h. der Zugang dazu mit viel Aufwand verbunden ist.
Dieses Werk hier ist möglicherweise das einzige aus der Feder einer Zeitzeugin:
Freundliche Grüsse
Regula Zürcher
Wow, das ganze Team des Staatsarchiv ist anscheinend mit meiner Anfrage beschäftigt.😮😅
Und diese Geschichte von Maria Küenzli aus dem Jahr 1804 scheint mir verheissungsvoll – muss ich sehen!
8.10.2023
Noch bevor ich den Hinweis zu Maria Küenzli’s Geschichte erhielt, vereinbarte ich einen Termin im Stiftsarchiv. Dort befinden sich die Quellen, die der Autor für die Randspalte «Die Frauen und die Revolution» verwendete. (Vgl. 3.10.2023) Der Autor des Artikels konsultierte und entzifferte genau dieselben Blätter, um daraus Bruchstücke im Text unterzubringen.
Im Stiftsarchiv:
Gemeinsam mit der Historikerin vor Ort, Anina Steinmann, schaue ich die bereitgestellten Dokumente durch. Sie ist des Lesens der altdeutschen Handschrift gewohnter als ich und hilft mir den Inhalt der Zeitzeugnisse zu verstehen und einzuordnen. Auffällig ist, dass in dieser Zeit (wir schauen uns den Frühling 1797 an) aussergewöhnlich viele Dokumente vorliegen. Mehrmals wird in den Briefen zum Schluss das Grusswort «mit Leib, Gut und Blut» verwendet.
Zur Erinnerung: Diese Dokumente habe ich angefordert, weil in der Randspalte zu Frauen in der Revolution des Geschichtsbuchs diese Quellen angegeben waren. Der Autor konsultierte und entzifferte genau diese Blätter, um daraus Bruchstücke im Artikel unterzubringen.
Ich finde auch die oft erwähnte Rede von «Bäse Anna»:
«Anna Maria Angehrn war eine nahe Base des Fürsten Beda und wurde daher vom Volk «Bäsi Ann» genannt. Warum sie trotzdem Gegnerin des Stifts war, ist unbekannt. Auf ihren Mann übte sie bestimmenden Einfluss aus, so dass man ihn als «Bäsi Anna Mann» verspottete. […] Bei den Ammannwahlen Anfang 1797 setzte ihm seine Frau die Rede an die Gemeinde auf – für die Zeitgenossen etwas Unerhörtes. Pfarrer Frommenwiler besorgte sich eine Abschrift und sandte sie an den Stiftsarchivar.» (Kaiser, 1996, S. 67)
Hier wird mir bewusst, dass Quellen des Stiftarchiv die Sicht des Klerus zeigen – und damit die konterrevolutionäre Seite vertreten. Hier werden revolutionäre Gesten entweder ignoriert, kleingeredet oder dumm und dämlich dargestellt.
Genau diese Abschrift hatte ich in der Hand! Markus Kaiser zitiert den Brief:
«Was erforderlich zu einer freyen Ammann und Richterwahl, schrieb die Frau Aemin nach der Einleitung, Ammann und Richter seyn erfordert ein Mann welcher Furcht Gottes, welcher Menschenliebe, welcher das Recht des Landesherrn und jene des Vaterlandes zu handhaben unerschrocken ohne Menschenfurcht besitzet. Umsehet Eüch also, getrüe Gerichtsgenossen, seyd unparteyisch in eüren Wahlen, suchet solche Männer aus eüer Mitte hervor, welche das Zutrauen von Eüch verdienen, wären sie reich oder arm ohne Angesehen der Persohn. Nur denen bezeugen Eüch durch Eüer Hand, das ihr sie als rechtschaffene Männer kennet, damit wir vergnügt als Brüder auseinander gehen.» (S. 67)
Kaiser stellt dann fest: «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - die Parole der Französischen Revolution aus der Feder einer Frau in einem Dorf der Alten Landschaft: das revolutionäre Gedankengut war überall eingedrungen. Anna Maria Angehrns Anforderungen an Politiker sind bis heute gültig geblieben.» (S.67)
So selbstverständlich wurden Frauen ignoriert.
17.10.2023
Erneut im Staatsarchiv.
Ich schaue mir die Dokumente zu Jospha Franziska Sutter an: zwei Zeitungsausschnitte, ein Gemälde, einen Brief. Im Brief äussert sich die Ehefrau des Müller-Friedberg besorgt um die bisher vom Staat oder Bistum finanzierte Wohnung, was bei höheren Beamten anscheinend Usus war. Revolutionär klingt das nicht.
Mich interessieren die Stimmen der Revolutionär:innen viel mehr, möchte etwas über deren Lebensbedingungen und Sichtweisen erfahren. Die wohlhabenden Frauen der politischen Entscheidungsträger scheinen nicht die richtigen Personen dazu zu sein.
20.10.2023
Ein weiteres Mal besuche ich das Staatsarchiv. Nun wegen Maria Küenzli. (Vgl. 6.10.2023)
1802 schrieb Maria Küenzli (manchmal auch Küenzle) die «Geschichte meiner Familie - vornehmlich während der sturmvollen Jahre der St.Gallischen Revolution». 1804 gab es eine erste Publikation in Buchform. Die Geschichte wurde auch 1971 (Teil 1) und 1979 (Teil 2) in den Oberberger Blättern veröffentlicht. Von diesen Seiten gibt es auf e-periodica.ch Scans, die für alle per Klick einsehbar sind:
doi.org/10.5169/seals-946562 (1971, Teil 1)
doi.org/10.5169/seals-946543 (1979, Teil 2)
Was für ein Fund!
Die Dokumente ermöglichen einen unerhörten Blick auf die st.gallische Revolution. Die Tochter des Gossauer Revolutionsführers beschreibt die Geschehnisse aus ihrer Perspektive. Zwischen den Zeilen lässt sich auch das Rollenbild einer Frau und Tochter einfacher Leute erahnen. Sie sagt beispielsweise einleitend:
«Ich weiß zwar, daß wenn diese Schrift bekannt werden sollte, die jetzige dem litterarischen Ton angebildete Welt das 18j ährige Mädchen belachen würde, das nie viel in Folianten blätterte und nicht hinter dem Bücherschrank im Studierzimmer, sondern auf seinen ländlichen Fluren erzogen wurde, das also nicht für die gelehrte Welt, nur für einen Vater, dem Vater Freude zu machen, die Feder ergreifen kann.» (Künzle, 1971, S. 35)
In der Folge beschreibt Maria Künzle durchaus intelligent über die stürmischen Jahre ihres Vaters, einem Revolutionsführer. Ihre Zeilen sind ein einzigartiges Zeugnis der Geschehnisse!
21.10.2023
Ich möchte unbedingt eine Situationsbeschreibung von ihr mit anderen Quellen vergleichen und herausfinden, inwiefern sich die Perspektiven unterscheiden:
Mir scheint die 1. Landsgemeinde in Gossau 1795 ein wichtiges Ereignis für das Demokratieverständnis des Kantons. Hier verschiedene Perspektiven, mit der dieses Ereignis beschrieben wird – oder auch nicht:
A
Maria Künzle, Revolutionärin, in Geschichte meiner Familie – vornehmlich während der sturmvollen Jahre der st.gallischen Revolution.
Zum 23. November 1795 schreibt sie aus erster Hand:
«Die allgemeine Landsgemeinde erfolgte und wurde in Gossau den 23ten Wintermonat 1795 abgehalten. Ganz Helvetien sah mit Interesse diesem Tage entgegen, der Ausländer mit Neugierde und mancher in St.Gallens Kloster vielleicht mit Bitterkeit. Eine ungeheure Menge Menschen waren bei dieser Versammlung; selbst Beda[3] wollte in eigener Person dabei erscheinen. In einer zweispännigen Kutsche, nicht wie ein Fürst, im einfachen Gepränge eines Vaters, der seine Kinder besucht, fuhr er durch die Mitte von 20 000 Menschen. Keine unsüße Miene grinste ihn an; alles lächelte dem Landesvater; aller Herzen schlugen ihm froh und dankbar entgegen, und die warmen Freudenthränen rollten in großen Tropfen über seine Wangen. Unvergleichliche Szene! die nur der fühlen kann, der einen Fürst in der Mitte seines ganzen Volkes Freudenthränen weinen sah. Er bestieg eine für ihn errichtete Bühne, die Landesausschüsse desgleichen, und unter dem Präsidio meines Vaters, der den ganzen Vertrag von Punkt zu Punkt erklärte, begann die Verhandlung. Mein Vater schilderte dem Volke das Große, Wichtige der heutigen Versammlung, das Glück oder Unglück der spätem Nachkommen, das aus ihrer Wahl entspringen könnte; die Beziehung auf die ganze Eidgenossenschaft. Sehr gerührt und in banger Erwartung saß der Fürst, feierlich fühlten alle und jeder besonders das wichtige Ja oder Nein!» (Maria Künzle, 1971, S. 47-48)
B
Oliver Schneider & Verena Rothenbühler, freischaffende Historiker:innen, in Stadt auf dem Land: Wil vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Der Sitz des Fürstabts von St.Gallen war bis zur Aufhebung des Klosters St.Gallen (1805) in Wil, wodurch das Städtli ein klerikales Machtzentrum darstellte und ihm deshalb eine besondere Bedeutung zufällt. Die inhaltliche Ausrichtung des Buches ist allerdings genau auf die Zeit nach der Revolution ausgerichtet. Die ereignisreichen Jahre vor 1800 werden entsprechend nur kurz zusammengefasst (die Landsgemeinde in Gossau wird nicht erwähnt):
«Ab 1793 begann sich in der Gemeinde Gossau eine Protestbewegung zu formieren, die zu einem Volksaufstand anwuchs. Nach langen Verhandlungen einigten sich der Fürstabt und die Untertanen im «Gütlichen Vertrag» von 1795 auf weitgehende politische und wirtschaftliche Reformen zugunsten der Landbevölkerung. Die revolutionäre Stimmung liess sich damit aber nur kurzfristig besänftigen, zwei Jahre später ergriffen die Unruhen auch die Stadt Wil.» (Oliver Schneider & Verena Rothenbühler, 2020, S. 17)
Übrigens wird später noch geschildert, dass die Unruhen in Wil sich auf die Veruntreuung und Misswirtschaft von Staatsgeldern durch Klerus und Adel bezogen. Die Wiler Bürgerschaft verlangte 1797 Einsicht in die Buchhaltung, verlangte Reformen nach dem Vorbild von Frankreich.
C
Willi Grüebler, Hobby-Historiker, in Zeitenwende in Wil – vom Ancien Régime zum Kanton St.Gallen.
Im Kapitel «Dem Umsturz entgegen» beschreibt Grüebler ausführlich den Gütlichen Vertrag und schreibt dann:
«Freude herrschte auf der Landschaft über diesen Erfolg. Auf einer vom Abt einberufenen Landsgemeinde in Gossau beschworen die Landleute am 23. November 1795 den Vertrag in Anwesenheit des Abtes. Der Gütliche Vertrag befriedigte wegen inhaltlichen und formalen Mängeln die auf die Dauer aber nicht. Schon bald ergaben sich Konflikte. Der Vertrag war ohne Einwilligung des Klosterkapitels ausgehandelt worden, was dessen Widerstand herausforderte.» (Willi Grüebler, 2016, S. 134)
D
Markus Kaiser, Primarlehrer, Archivar am Staatsarchiv SG 1981-?, in «Machet die linden Kogen Garaus!» - Harte gegen Linde, Parteienkämpfe in der Fürstenländer Revolution.
Kaiser beginnt den Artikel mit einer kurzen Zusammenfassung»:
«Der Gütliche Vertragzwischen Fürstabt Beda Angehrn und den revolutionären Ausschüssen unter Führung von Johannes Künzle, im November 1795 durch die Gossauer Landsgemeinde besiegelt, brachte der Alten Landschaft nicht die erhoffte Ruhe. Die Revolutionäre und ihre Anhänger liessen zwar den Fürsten Beda hochleben, standen aber dem Klosterkonvent, der fürstlichen Regierung und besonders Bedas Nachfolger Pankraz Vorster kritisch oder sogar feindlich gegenüber. Ihr Ziel blieb, nach dem Muster und der Strategie der Französischen Revolution, das patriarchalische alte Staatssystem zu beseitigen.» (Markus Kaiser, 1996, S. 53)
Nicht erwähnt wird hier, dass Pankraz den «Gütlichen Vertrag» wieder rückgängig machen wollte, um die alten Herrschaftsverhältnisse wieder zu installieren …
E
Werner Vogler, Historiker, Leiter Stiftsarchiv SG 1978-2002, in Die Fürstabtei St. Gallen und die Französische Revolution.
In diesem Geschichtsbuch wird die Landsgemeinde gar nicht erwähnt. Der «Gütliche Vertrag» vom 23. November 1795 ist aber im Original abgebildet und in der Bildlegende steht, dass er ein Sigel von Konvent und Abt von St.Gallen und Unterschriften der Ausschüsse enthalte. Mit «Konvent» ist möglicherweise die Landsgemeinde gemeint.(?) (Werner Vogler, 1990, S. 95)
Nur beiläufig wird in einem Satz erwähnt, dass der Vertrag zwischen Abtei und Bewohnern der Alten Landschaft für die Untertanen die Aufhebung der Leibeigenschaft und weitere politische Verbesserungen der persönlichen Stellung brachte.
24.10.2023
Besuch im Stadtarchiv und der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St.Gallen.
Ich sichte die Briefe von Maria Künzle. Und bin begeistert – obwohl ich die Handschrift auf die Schnelle nicht lesen kann. Die Briefe müssen transkribiert werden!
Ich bitte Anina Steinmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Stiftsarchiv, um ihre Mithilfe.
27.10.2023
Liebe Karin
Das klingt wirklich total spannend! Wie viele Briefe liegen denn im Ortsbürger-Archiv? Das Anschauen und Transkribieren frisst sehr viel Zeit; das könnte ich sicherlich nicht mal eben kurz hinschletzen (leider). Vielleicht können Dir die Leute im historischen Stadtarchiv gleich vor Ort behilflich sein? Einen Teil kannst Du aber digital schicken, dann schaue ich, was sich machen lässt.
Herzliche Grüsse,
Anina
28.10.2023
Ich möchte mehr erfahren über Frauen in der Revolution. Was wird allgemein so erzählt?
Meine Recherche hat bisher ergeben, dass Frauen – falls sie überhaupt Erwähnung finden – nicht als Heldinnen oder Unterstützerinnen der Revolution dargestellt werden, sondern als «der Teufel selbst», «politisierte Hyäne» oder als «parisisches Fischweib» bezeichnet werden. (Vgl. 3.10.2023)
Ich frage Curdin Jemmi, Sekundarschullehrer, ob im Geschichtsunterricht Frauen in der Französischen Revolution thematisiert werden. Er schickt mir den Screenshot und Kommentar: «etwas in der Art war Thema im Unterricht …» Immerhin ist der Protest der Frauen heute Thema im Unterricht.
https://www.kinderzeitmaschine.de/neuzeit/franzoesische-revolution/ereignisse/1789/zug-der-marktfrauen-nach-versailles/
In der Bibliothek Wyborada finde ich ebenfalls Bücher zu Frauen in der Revolution – allerdings ausserhalb der Ostschweiz und auch weit nach 1800.
Susanne Petersen (1987) hat in ihrem Buch «Marktweiber und Amazonen – Frauen in der Französischen Revolution» Dokumente, Kommentare und Bilder jener stürmischen Zeit zusammengetragen. Einleitend stellt sie fest: «Erst seit den [19]70er Jahren bemüht sich eine wachsende Zahl von Forscherinnen meist feministischer Orientierung darum, die von der «männlichen» Geschichtsschreibung verschütteten Spuren weiblicher Präsenz in der Geschichte freizulegen, […].» (S. 11)
Und zur Quellenlage stellt sie klar: «Zwar wurden auch Revolutionszeitschriften konsultiert und mir vorliegende Archivalien ausgewertet, aber die Probleme der Quellenlage machen sich deutlich bemerkbar. Zumeist sind es Männer, die über Aktivitäten von Frauen sprechen, diese beschreiben und bewerten; häufig handelt es sich dabei überdies um Angehörige des Polizei- und Überwachungsapparates, was ihren Beobachtungen noch eine besondere Färbung gibt. Und wenn Frauen selbst zu Wort kommen, dann geschieht das häufig in Verhören, wo sie auf vorgegebene Fragen zu antworten haben und taktisches Raffinement zeigen müssen, um aus der Sache ungeschoren herauszukommen.» (S. 12)
Nichtdestotrotz gewährt das Buch anhand ausgewählter Reiseberichte, Gerichtsakten oder die «Erklärung der Rechte der Frau» von Olympe de Gouges ein schillerndes Sittenbild der Zeit um 1790 in Frankreich.
In «Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830» (Schmidt-Linsenhoff, 1989) sind diverse Artikel zusammengetragen. Ute Gerhard beispielsweise schreibt über «Menschenrechte – Frauenrechte 1789». Sie beschreibt die Frauenrechtserklärung von Olympe de Gouges von 1791 als das «bezeichnenderweise in allen Textsammlungen fehlende – rechtshistorische Dokument, das der männlichen Verengung des Gleichheitsbegriffs systematisch entgegentritt.» (S. 55) Die Autorin vergleicht de Gouges Frauenrechtserklärung mit der Menschenrechtserklärung (Code Civil) und schält die sprachlichen Nuancen heraus, in denen sich Missstände in der Ungleichheit von Mann und Frau formulieren, gerade weil das 1803 verfasste Zivilrecht «insgesamt noch (oder wieder) durchaus patriarchalisch war und sich kaum vom «ancien droit» unterschied». (S. 66)
Für die Frauen hat die Revolution also kaum etwas geändert. ☹
29.10.2023
Ich vertiefe mich in die Geschichte von Maria Künzle, in der sie die aufständische Versammlung bei Gossau vom 20. Februar 1797 beschreibt:
«Es war eine fürchterliche Szene! gräßlich tönten die Sturmglocken; was Gewehr hatte, lief auf den Platz; schon stunden im ersten Augenblick auch Weiber in der Front; man sah da scheußliche Instrumente zum Vorschein kommen und Waffen aller Art, die man nie vermuthet hätte, die Mädchen saßen in Reihen auf dem Boden und machten Patronen; die kleinen Kinder schob man alle zusammen in die Kirche und verschloß sie; die Weiber, und was Hände und Füße hatte, trugen Stangen, Hakken, Sensen und zu 1000 aller Arten Prügel auf den Platz, andere große Steine in die obern Stockwerke der Häuser; kurz, kein einziger Mensch war da, der nicht etwas zu thun hatte; es war eine Wimmel-Maschine, die ein ruhiger Beobachter gewiß mit Bewunderung angesehen hätte. Während dies alles vorgieng, war eine ungeheure Menge Volk zusammengekommen vom ganzen Lande und auch von der Nachbarschaft. Man theilte die Mannschaft in Compagnien ein, und in einer halben Stunde stand schon eine Armee von mehr als 1000 Mann und etliche hundert Weiber da. Alle ein Geist, ein Feuer, eine Wuth. […] Wegen den vielen Prügeln, die an diesem Tage zum Vorschein kamen, nennt man ihn den Steckenmontag. Eine besondere Anmerkung verdient doch hier das Gossauer Weiberregiment, das sich an diesem Tag so kühn und klug von vielen Männern auszeichnete. Und ich wünschte, daß jedermann bei dessen Erinnerung seiner Amazone einen Kuß dafür gäbe, und jedesmal am Jahrestage dieser Epoche die Mädchen stolz sein dürften wie die Jünglinge. Jetzt rümpften die Herren Leser wohl fürchterlich die hohe Stirne! aber ich meine ja nur alle Jahre einen Tag. Ich selbst war an diesem Tag ein sonderbarer Widerspruch. Ich hatte einen großen Prügel geschultert, stand in der Front wie ein Grenadier; aber im Innern des Herzens zitterte es wie Espenblätter.» (Maria Künzle, 1971, S. 51-52)
30.10.2023
Ein Telefongespräch mit Werner Warth, Archivar des Stadtarchivs Wil ergibt Folgendes: Er kennt keine Quellen von Wiler Frauen zur Zeit der Revolution in seinem Archiv. Stattdessen verweist mich der Archivar auf Standardwerke zur Geschichte von Wil. Vor allem «Zeitenwende in Wil» von Willi Grüebler sei lesenswert. Zudem erwähnt Warth den Vortrag «Liederliche Weibsbilder, Ehrenjungfern und Frauenzimmer» von Magdalen Bless aus den 1980er Jahren.
31.10.2023
Ich decke mich mit den Büchern in der Bibliothek Hauptpost ein. (Vgl. 30.10.2023)
4.11.2023
Als erstes lese ich in «Zeitenwende in Wil – vom Ancien Régime zum Kanton St.Gallen» von Willi Grüebler. Gemäss Stadtarchivar Warth habe der Autor während 30 Jahren seine Familiengeschichte erforscht. Dem bald hundertjährigen Hobby-Historiker und Physiker an der ETH war die wissenschaftliche Arbeitsweise vertraut. Entsprechend zeichnet sich das Buch durch genaue Quellenangaben aus. Er muss viele Stunden im Archiv verbracht haben.
Grüebler erzählt die Geschichte der Äbtestadt Wil der 1790er bis 1810er Jahre, oft belegt mit Dokumenten einzelner Mitglieder der Familie Grüebler. Wenngleich die lokalen Begebenheiten immer wieder in den internationalen Kontext gestellt werden, wird die Geschichte Wils leider zu oft die Geschichte der Grüebler. Damit wird die Geschichte Wils aus konservativer Perspektive betrachtet.
Klerus, Adel und die wohlhabenden Bürger waren nicht so happy mit der Revolution. Für sie bedeutete das aufbegehren der Arbeiter und Bauern (explizit männliche Schreibweise gewählt, weil Frauen den Männern auch in der neuen Verfassung nicht gleichgestellt wurden) ein Macht- und Geldverlust. Das zeigt sich auch im Buch mit der Auswahl der Texte zur wohlhabenden Familienclan Grüebler. Es ist demnach eine sehr einseitige Sicht auf die Geschehnisse.
Fun Fact: Die Helvetische Republik hatte mit Gesetz vom 17. September 1789 den Besitz der Klöster verstaatlicht. In der Folge wurden durch zahlreiche Auktionen Stiftsgüter versteigert. Auch der Hof zu Wil. «Ausgenommen im Kauf waren die Uhr und die zugehörigen Glocken und das Zifferblatt.» (Grüebler, 2016, S. 198) Die Uhr wird sonst nirgendwo erwähnt, scheint aber aufgrund der expliziten Erwähnung etwas Besonderes gewesen zu sein.
Weniger Lustig: Nach der Niederlage Napoleons wurde der Mediationsvertrag (Zentralstaatslösung) von der eidgenössischen Versammlung für aufgehoben erklärt und am 8. September 1814 durch den Bundesvertrag ersetzt – und damit auch frühere Rechte und Gewohnheiten wiedereingeführt.
Willi Grüebler schreibt dazu: «In der neuen aristokratischen Kantonsverfassung vom 31. August 1814 waren die Wünsche eines grossen Teils der Bevölkerung nicht erfüllt worden.» (S. 204) Er erwähnt aber mit keinem Wort, weshalb die Bevölkerung unzufrieden war. Die neue Kantonsverfassung wird leider nicht inhaltlich erläutert; lediglich ein brisantes Änderungsvotum der zu schaffenden Gesetze findet en passant Erwähnung:
«Teile dieser Abänderungen verstiessen gegen die Bundesakten und auch gegen die Verfassung. Die geforderten Änderungen betrafen folgende Punkte:
1. Wiederherstellung des Stifts mit der geistlichen Jurisdiction […]
5. Damit die Armen den Gemeinden nicht zur Last fallen, soll der Bettel abgeschafft werden und der Unterhalt von Verwandten bezahlt werden.
6. Die unehelichen Kinder sollen von den Müttern unterhalten werden, nicht durch die Gemeinden.» (S. 210-211)
Mit dieser Aufzählung wird allerdings nicht klar, ob die Annahme der Gesetzesvorlage eine Verbesserung oder eine Verschlechterung der Lebensumstände der Bevölkerung bedeutet hätte. Die zitierten Quellen beziehen sich in der Regel auf die Lebensumstände des wohlhabenden Grüebler Clans (Besitzregelungen in Eheverträgen und Briefen).
5.11.2023
Das 2020 erschienene und besonders schön gestaltete Buch «Stadt auf dem Land – Wil vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart» zeigt, wie Geschichtsschreibung auch aussehen könnte. Es zeichnet sich mit Verena Rothenbühler, neben Oliver Schneider, auch eine Frau als Autorin aus.
Anmerkung zur Zitierweise:
Mich irritiert, dass im Buch an erster Stelle Oliver Schneider erwähnt wird. Gemäss Alphabet stünde R vor S. Was ist der Grund? Der Einleitung entnehme ich nämlich, dass die Stadt Wil und die Ortsbürgergemeinde Verena Rothenbühler und Oliver Schneider mit der Erarbeitung beauftragt haben (S. 14). Fakt ist, dass beim automatischen Zitieren das Buch Schneider als Autor zugewiesen wird. Rothenbühler erscheint als Mitarbeiterin. Das ist systemische Frauendiskriminierung – 2023. Ich passe die Zitiervorlage manuell an …
Nach diesem kleinen Ärger nun zum Buch, zur Revolutionsgeschichte, zur Geschichtsschreibung:
Während Willi Grüebler die einfachen Bürger kaum erwähnt und auch den Widerstand gegen die Kantonsverfassung von 1814 nicht im Detail erläutert, finden diese hier ihren Platz. Es werden gar Revolutionäre beim Namen genannt:
«Die Ausarbeitung einer neuen Kantonsverfassung bot den Abttreuen die Möglichkeit, ihrem Ziel näher zu kommen. Aber auch die Revolutionäre um Stephan Sailer stellten sich gegen die neue Verfassung. Ihre Revolutionshoffnung, die im Sommer 1802 geplatzt war, hatte auch der neue Kanton St.Gallen nicht erfüllt. Im Gegenteil, halten Oliver Schneider und Verena Rothenbühler (2020) fest:
«Die Verfassung von 1803 hatte die Macht in die Hände der alten Elite gelegt. […] Die neue Kantonsverfassung bot den Demokraten, wie sie sich nun nannten, die Gelegenheit, mit den Behörden abzurechnen. Während es ihnen um mehr politische Rechte auf lokaler Ebene ging, wünschten sich die Abttreuen den Untergang des Kantons und die Rückkehr der äbtischen Herrschaft.»
6.11.2023
Mehr Einsichten zu den Lebensumständen der Wiler Frauen erhoffe ich mir durch die 1986 publizierten Vortrag «Liederliche Weibsbilder, Ehrenjungfern und Frauenzimmer – Frauen im alten Wil» von Magdalen Bless-Grabher. Die 1948 geborene Historikerin bezieht sich in ihrem Vortrag auf Rechtsdokumente der vergangenen Jahrhunderte, vom 8. Jahrhundert bis zur Kantonsgründung.
Bereits in der Einleitung stellt Magdalen Bless (1986, S. 5) klar: «Da der Aktionsradius der Frauen in der Öffentlichkeit beschränkt war, hinterliessen sie in den Quellen wenig Spuren.» Dieser Bezug auf Rechtsquellen, anhand derer Magdalen Bless-Graber Lebensumstände von Frauen über die Jahrhunderte nachzeichnet, ist ein total interessanter Ansatz! Ich lerne ganz viel, so zum Beispiel über die «Munt», der heutigen «Vormundschaft», die Frauen in die Herrschaftsgewalt des Vaters oder Ehemanns stellte. Die Vormundschaft hatte auch eine Auswirkung auf die rechtliche Geschäftsfähigkeit, die im Mittelalter den selbständigen Erwerb von Frauen erlaubte, in der frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert) aber nicht mehr: Für jede Frau wurde ein männlicher Vormund als Vermögensverwalter obligatorisch.
Sie beschrieb anhand schriftlicher Rechtsquellen auch den Schutz am Frauenkörper, resp. die Strafe bei Verbrechen. Dieser Schutz veränderte sich über die Jahrhunderte: Im Frühmittelalter führten schlechte Lebensbedingungen zu mehr Schutz, in der frühen Neuzeit (16.-18. Jh.) verschlechterten bessere Lebensbedingungen den Schutz. Noch Mitte des 17. Jahrhunderts sei die Frau eines Wilers wegen Ehebruchs enthauptet worden. Beschränkungen in den Beziehungen des Mannes ergaben sich höchstens insofern, als er sich nicht am «Eigentum» (sprich der Frau) eines andern Mannes vergreifen sollte.
Weiter seien Frauen im Mittelalter rechtlich weitgehend handlungsunfähig gewesen, weil sie in den martialischen Gerichstprozessen (wer im Zweikampf siegte, hatte recht) körperlich unterlagen oder ausgeschlossen wurden. In der frühen Neuzeit leitete man die Geschlechtsvormundschaft nicht mehr wie im Mittelalter von der mangelnden Waffen- und Wehrfähigkeit der Frauen und der Herrschaft des Hausvaters ab, sondern von der weiblichen «Geschlechtsschwäche». Darunter verstand man einen angeborenen Mangel an Vernunft und Besonnenheit. Die These der «Geschlechtsschwäche» ist auch an den Universitäten verbreitet worden – notabene in der Zeit der Vernunft, der Aufklärung.
Mit dieser Begründung wurden Frauen von vielen Berufen und qualifizierten Berufslehren ausgeschlossen. Eine höhere Schulbildung – Lateinschulen und Universitäten – waren für sie ebenfalls tabu.
Über Jahrhunderte war die Unmündigkeit der Frau rechtlich festgelegt. Das änderte sich erst grundlegend mit dem Eidgenössischen Frauenstimmrecht im Jahr 1972 und dem Gleichstellungsgesetz von 1996. Autsch – das ist noch nicht mal 30 Jahre her ...
7.11.2023
OH! Ich finde in der Bibliothek Wyborada das Buch «FRAU – Realität und Utopie» zu, in welchem Magdalen Bless-Grabher bereits 1984 einen Beitrag mit ähnlichen, aber ausführlicheren Texten wie im Vortrag verfasst, umfassend mit Quellen belegt und mit Illustrationen angereichert hat: «Liederliche Weibsbilder, Ehrenjungfern und Frauenzimmer – Ein Streifzug durch die Rechtsgeschichte».Grossartig! (vgl. 6.11.2023)
7.11.2023
Nun wende ich mich wieder Maria Künzle zu. (Vgl. 6.10.2023 / 24.10.2023)
Was hat die Tochter des Revolutionärs Künzle in ihren Briefen geschrieben?
Theres Flury, Mitarbeiterin vom Stadtarchiv und Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St.Gallen, hat in der Zwischenzeit die Briefe gescannt und einen Link zum Download geschickt. Es sind 30 Dokumente, die es zu entziffern gilt!
4.12.2023
Die Scans liegen allerdings wegen einer hartnäckigen Grippe fast einen Monat lang unberührt auf meinem Rechner.
Heute steht mir ein grösseres Zeitfenster zum Eintauchen in Maria Künzles Handschrift zur Verfügung. Ich versuche einen Brief aus dem Jahr 1803 (Nr. 14) zu transkribieren. Die Bilddatei (Scan des Briefs) lässt sich zoomen, d.h. die Schrift kann vergrössert werden, was praktisch ist. Es dauert aber trotzdem lange, bis ich einzelne Buchstaben entziffert habe …
Nach einer Weile erkenne ich aber den ungefähren Inhalt: Maria schreibt über die Veröffentlichung ihres Textes über die sturmvollen Jahre der st.gallischen Revolution, welche Korrekturen dazu noch vorgenommen werden müssen. Sie schreibt auch über ein Buch «Maria», das sie am lesen ist. Am Ende des Briefes bittet sie den Empfänger ihr das Buch «Cabale und Liebe» von Schiller zu besorgen.
8.12.2023
Auch Anina Steinmann vom Stiftsarchiv hat inzwischen in ihrer Freizeit transkribiert! Ihre Transkripte sind für mich super Decodier-Vorlagen. Die Eigenheiten einer Schreibschrift wiederholen sich, was das Wiedererkennen von einzelnen Buchstaben erleichtert.
Und in einer Grusszeile schreibt sie: «Ich bin mit Achtung». So schön.
9.12.2023
Das Transkribieren geht weiter. Eintauchen möchte’ ich, noch mehr über diese spannende Frau und ihre Zeit erfahren. Buchstabe für Buchstabe entziffere ich (Nr. 24), dass Maria Künzle auch das Buch «Maria» von Mary Wollstonecraft liest! Wollstonecraft, DIE Frauenrechtlerin der Zeit aus England, ist demnach auch Maria Künzle ein Begriff. Weitere Briefe folgen. Auch von Anina Steinmann.
11.12.2023
Ich bin mit Achtung. Diese Grussformel lässt mich nicht mehr los. (Vgl. 8.12.2023)
Ich bin mit Achtung – irgendwie kondensieren diese wenigen Worte meine Recherche aufs Wesentliche. Ich bin mit Achtung gegenüber Maria Künzle, gegenüber den Revolutionär:innen, die den Feudalstaat zur Demokratie wandelten. Ich bin mit Achtung gegenüber den Menschen heute, die sich weiterhin für demokratische Werte, und damit konsequenterweise auch für Diversität und Nachhaltigkeit einsetzen. Maria Künzles Grussworte stehen für eine Komplizenschaft, stellen eine Brücke von der st.gallischen Revolution zum Heute dar, spiegeln die Zeitenwende im Heute. Ich bin mit Achtung. Das ist mehr als ein Grusswort. Es ist ein Statement, eine Haltung.
© Karin Karinna Bühler, 2024