Ein zartes Schaudern
Audioarbeit
Schweizerdeutsch, wav-Audiodatei, 146 MB, 14:30 min
Schaukasten Herisau, Ein zartes Schaudern, 27.2.–18.5.2008
Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, Ein zartes Schaudern - Fragmente der Wirklichkeit, 21.10.–30.12.2012
Text von Ursula Badrutt
Schaukasten Herisau
Karin Bühler, Ein zartes Schaudern
„Das Geheimnis ist, dass man nicht einfach Zäuerle lernen kann. Man muss wissen, was der Säntis bedeutet, wenn man ihn anschaut. Der Säntis ist wie zäuerlen - rauf und runter. So ist das.“
Der Schaukasten ist jetzt Hörkasten, ein Objekt. Radiolautsprecher. Doch muss man schon genau hinhören, das Ohr hinhalten, die Antennen ausstrecken. Der Sender sucht. Es ist das Suchen nach jenen Tönen, die wir kennen, verstehen. Das Rauschen und Knistern ist fremd, von einem anderen Planeten. Oder aber es zischt und faucht, ist abweisend und unfreundlich. Oder es wird zu Musik, zu Rhythmus. Dann gibt es Frequenzen, die klingen wie Vertrautes. Eine Musikdose ertönt. Stammtischgespräche. Ein Mann (Hansueli Wälte) erzählt vom Zäuerlen. Es sei ein Ausdruck von Freude. Aber nicht nur. Was noch? Ein Ausdruck von Schwere? Ist es die Seele, die redet? Es sei wie von einer anderen Welt. Das Vertraute ist das Fremde.
Es ist ein Heimspiel, das Karin Bühler in Herisau bestreitet. Im Ifang aufgewachsen, durften sie und ihre Schwester manchmal den Vater in die Beiz begleiten, am Stammtisch zusammenrücken. Da konnte es geschehen, dass plötzlich ein Zäuerli startet und alles rundum verstummte. „Da spürte ich viel Melancholie und innige stille Freude, eine schöne Ernsthaftigkeit. Die unterbrochenen Gespräche wurden nach kurzem Räuspern wieder weiter geführt.“
Diese Begebenheit, die sich nicht erklären lässt, reizt Karin Bühler, in eine neue Form zu übersetzen. „Mich interessiert der Blick hinter die Postkartenansicht, um dort das zufällig aufflackernde Urige erhaschen zu können.“ Das zarte Schaudern ist Erinnerungsarbeit.
Schon seit einiger Zeit beschäftigt sich Karin Bühler mit Fragen rund um die Erinnerung. Was ist erinnerungswürdig und wie lässt sich Erinnertes und Vergessengeglaubtes abrufen. Welche Bilder, welche Geräusche, welche Gerüche sind mit welchen Erinnerungen und Erfahrungen verbunden? Dabei vermischt sie Gefundenes und Eigenes, aus Distanz Beobachtetes und herznah Privates zu eigentümlichen Stimmungsgebilden zwischen Nostalgie, Langeweile, Sehnsuchtsanalyse und Vision.
Sie schneidet Aufzeichnungen aus realen Gesprächen und Erzählungen zu fiktiven Hörcollagen zusammen. Dabei vermeidet sie narrative Strukturen, Spannung und Höhepunkte. Bagatellen ist eine Arbeit von 2004-07, die Um- und Abwege und Nebensächliches untersucht, das Unaufgeregte in einer momentanen Aufregung. Auch Weile mit Weile, 2006 entstanden für das Alte Spital - beziehungsweise den Palais Bleu - in Trogen, erforscht das Vergehen der Zeit in der Begegnung mit der eigenen und fremden Langeweile.
Neben den Audio-Arbeiten und Installationen entstehen auch Objekte und Fotografien. In sachter Poesie schenkt Karin Bühler dem Belanglosen und Leisen Aufmerksamkeit und damit Würde, und mit beiläufiger Leichtigkeit macht sie lebensphilosophische Themen rund ums Herumschweifen zugänglich.
Ursula Badrutt, Februar 2008
Transkription Aussagen Hansueli Wälte, Appenzeller «Zäuerli-Papst»:
4:10
Man kann nicht auf Befehl jodeln. Man kann schon – aber es kommt dann nicht gleich daher. Wenn Sie einem Zäuerli zuhören, und wenn es unverhofft passiert, zum Beispiel an einem Ort, wo man es nicht erwartet, wenn es nicht arrangiert ist, wenn es spontan passiert – wenn ein Zäuerli kommt, und wenn es schön gesungen ist – dann bin ich in einer anderen Welt. Man hat das Gefühl, es liegt etwas in der Luft. Es ist immer ein Ausdruck der Freude. Es gibt verschiedene Ausdrücke. Das Zäuerli hat diese Intensität, die man empfindet, wenn man in einer anderen Welt ist. Es ist gut möglich, dass ich total «durch» bin – in einem Gefühl, unbeschreiblich.
5:33
Die Ursprungsmelodie war vermutlich ein Ruf, um die Kühe zu rufen. Das hat sich dann wahrscheinlich weiterentwickelt. Es gab auch einen Jodel, ein Juchzer, mit dem man jemanden «ushuje» konnte. Das sogenannte Huja. Das sind sehr hohe Töne in kurzer Folge, «giftig» gesungen. Damit kann man jemanden ärgern. Wenn man zum Beispiel jemanden in einer Wirtschaft «ushujet», dann kann das eine Schlägerei auslösen.
Wenn man in einem Restaurant merkt, dass sich eine gefährliche Situation anbahnt – wenn zwei Männer nicht mehr der gleichen Meinung sind – und wenn man dann den Mut hat, ein Zäuerli anzustimmen, dann ist alles vergessen. Alles vergessen. Die Harmonien des Zäuerli sind beruhigend. Generell – und auch für mich: Wenn ich gestresst bin, kann ich mit einem Zäuerli alles vergessen. Alles abschalten. Und vergessen.
7:13
Die Melancholie kommt vom Ursprung des Zäuerlis her. Sie kommt ursprünglich aus einer tiefen Religiösität. Darum die Melancholie. Der Appenzeller ist in der Regel eher zurückhaltend – und er kommt erst aus sich heraus [zeigt seine Gefühle], wenn er in Gesellschaft ist, wenn er lustig ist. Dann nimmt er vielleicht eher ein pastoral gefärbtes Zäuerli – ein ganz langsames, wehmütiges.
8:36
Ah, die Frauen. Heute ist es so, dass im originalen Appenzeller Chor – zum Beispiel beim «Öbere Fahre» oder beim «Chlausen» - keine Frauen dabei sind. Das ist Tradition. Die Urgestalt war der Mann. Viele Männer in meinem Umkreis sagen, dass reine Frauenchöre mehr «giibsen» [ähnlich wie quietschen] als singen. Das Problem ist, dass Frauen in höheren Lagen singen. Der Mann mag es nicht, den Ton in diesen höheren Lagen «gerade» [die Tonhöhe] zu halten. Weil es eben höher ist, eine andere Frequenz. Die mögen nicht alle. Es fehlt die Weichheit der Töne – die schönen, warmen Töne, jene Töne, die eindringlich sind.
9:38
Wenn mehr Frauen zuhause jodeln würden, dann hätten wir noch viel mehr, die es könnten. Die Jungen haben heute andere Musik im Kopf. Tack tack tack tack. Und die englische Aussprache hat überhand genommen.
10:15
Offiziell Zäuerle lernen kann man gar nicht. Das Zäuerle muss man im Blut haben, sonst ist es schwierig. Das Zäuerli hat gewisse Gesetzmässigkeiten, die man kennen muss. Die lernt man, wenn man hier aufgewachsen ist. Diese Leute haben das Zäuerli dann meistens im Blut. Die haben etwas, das andere nicht haben. Sie kennen die ungeschriebenen Gesetzmässigkeiten des Zäuerli: was man machen muss, was es heisst ein «Vorzaurer» zu sein, ein «Graadheber» oder ein «Nachfahrer». Denen muss man das nicht mehr erklären. Man kann es vielleicht noch verbessern – aber sie wissen, worum es geht. «Graad hebe» – da wird der Ton einfach gerade gehalten. Es werden höchsten zwei bis drei Töne gesungen. Und sobald nach Noten gesungen wird, fehlt das Herz. Fehlt eine Intensität. Die bringt man einfach nicht zustande, wenn man nicht in diesem Klima aufgewachsen ist. Der Kenner merkt sofort, ob das Zäuerli von einem Appenzeller – von einem Einheimischen – oder von jemand anderem gesungen wird. Er merkt es sofort.
11:44
Das Geheimnis ist: Man kann nicht einfach Zäuerle lernen. Man muss wissen, was der Säntis bedeutet, wenn man ihn anschaut. Der Säntis ist wie Zäuerlen: rauf und runter. So ist das.
Anmerkung der Künstlerin, 7.10.2025
Wenn ich mir heute diese Audioarbeit anhöre, bin ich nach wie vor gerührt vom suchenden Beschreiben von etwas Unerklärlichem. Ich war Zuhörerin, und als solche durchaus berührt von den Klängen, der Ernsthaftigkeit, der Melancholie. Das ist heute noch so. Ein zartes Schaudern erfasst mich, wenn ich ein Zäuerli höre.
Ich wähnte mich damals als Zugehörige. Gerade dieses Zugehörigkeitsgefühl irritiert mich heute. Als Mädchen – oder als junge Frau, die ich damals war – war mein Mittun beim Zäuerle nicht vorgesehen. Ich war am Tisch geduldet. Es gab ohnehin kaum Frauen in der Beiz. Frauen hatten keine Stimme in dieser Runde, jedenfalls nicht, wenn gezäuerlet wurde. Ich hatte gelernt, mich in dieser Männerwelt ein- und unterzuordnen. Die Welt, wie sie mir erklärt wurde, fühlte sich wie die einzige Wahrheit an.
Es war auch normal, dass Männer in diesen Kreisen anscheinend nur zu polternden Gefühlen fähig waren und das Zäuerli die einzige Möglichkeit war, eine gewisse Verletzlichkeit zu zeigen.
Ich erinnere mich, dass ich das Zäuerle nur beschreiben wollte. Vom Naturjodel sind deshalb lediglich ein paar wenige Fragmente zu hören. Am Ausstellungsort – dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin – kennt man das Zäuerli. Den Passant:innen und Schaukasten-Besucher:innen war es gut möglich, sich das Abwesende mit den vertrauten Männerstimmen vorzustellen. Heute würde ich meiner Komposition Gesang hinzufügen: mit weiblichen Stimmen, mit genauso schönen, weichen Klängen. Und es dürfte – nein, sollte – auch «giibse».
Impressionen Schaukasten Herisau